Ich weiß ehrlich nicht, was die Volksbefragung zum Thema Wehrpflicht genau soll. Ich weiß nur eines: Es gibt keine sinnloser verbrachte Zeit als die als Präsenzdiener beim österreichischen Bundesheer. Und das weiß ich aus eigener und leidvoller Erfahrung.
Bei anderen war diese leidvolle Erfahrung noch schlimmer, damals Ende der 80er Jahre in der Heeresunteroffiziersschule in Enns. Da war zum Beispiel H. Der hat sich das Leben genommen. In der offiziellen Begründung, die uns der Diensthabende bei der morgendlichen Standeskontrolle vorgelesen hat, war die Rede von „privaten Problemen“ und „Familie“. Dass H. diesen Schritt ausgerechnet während seiner Zeit als Präsenzdiener gesetzt hat, war sicher purer Zufall. Da war auch noch S. Der hat seine Waffe geputzt wie sonst keiner. Die war immer super sauber, da hat er Wert darauf gelegt. Dafür durfte er bei den Schießübungen auch ein paar Patronen mehr verheizen als die anderen. Ansonsten war er ein Weichei, dem die Kameradschaft in der Kaserne zu viel wurde und der sich mit einem Nervenzusammenbruch in das normale Leben da draußen retten wollte. Er war rasend eifersüchtig und wollte zu seiner „Oidn“. (So hat er sie genannt.) Das hat er zwar geschafft, aber als er die Kaserne verlassen hat, bekam er das Wort „nachdienen“ mit auf den Weg. Der Tenor bei den dagebliebenen Vaterlandsverteidigern war folglich: „So ein Trottel!“
Was Stanley Kubrick in der ersten Hälfte von Full Metal Jacket gezeigt hat, gab es auch in der österreichischen Variante. (Und Berichten jüngerer Männer zufolge gibt es das nach wie vor.) Wir hatten unglaublich dumme Ausbildner (in unserem Jargon „Zivilversager“), die sich einen Spaß daraus gemacht haben, Maturanten und angehende Akademiker zu erniedrigen. Wir waren ihre Private Jokers. Wenn einer von uns die Handschuhe vergessen hat, mussten 80 andere bei -15 Grad Celsius exerzieren. Selbstverständlich ohne Handschuhe. Und damit beim nächsten Mal niemand die Handschuhe vergisst gleich eine Stunde länger. Im stupiden Gleichschritt auf und ab am Kasernenhof. Wir mussten lernen, vor Menschen zu kuschen, die mit Ausnahme einiger Sterne auf ihrer Schulter keinerlei Anlass geboten haben, Respekt vor ihnen zu haben. Heute versucht man, uns zu erklären, dass man beim Heer etwas für das Leben lernt:
#32
Wehrpflicht und Zivildienst leisten einen wichtigen Beitrag zur staatsbürgerlichen Bildung!
Wenn es „staatsbürgerliche Bildung“ ist, was man uns damals beim Heer vermittelt hat, dann besteht der Bildungsinhalt primär darin, zu lernen, nicht gegen diejenigen aufzumucken, die in der Hierarchie über uns stehen. Ich war nicht allzu gelehrig und durfte bei dem einen oder anderen „SamSon“ (Wachdienst am Samstag bzw. Sonntag) „darüber nachdenken“. Schade nur, dass man nicht denken kann, wenn man 20 Stunden am Haupteingang einer menschenleeren Kaserne sitzt. Der Rest der „staatsbürgerlichen Bildung“ bestand darin, uns veraltete Bedrohungsszenarien zu vermitteln. 1990 war der eiserne Vorhang gerade gefallen und den Feind, über den wir informiert wurden, gab es in der Form nicht mehr. Das Schulungsmaterial war aber noch gut im Schuss und neues gab es noch nicht. Also haben wir uns halt gegen den Feind aus dem Osten aufmunitioniert.
Am 20. Jänner 2013 haben wir die Möglichkeit, über Wehrpflicht oder Berufsheer abzustimmen. Auf die Frage gibt es aus meiner Sicht nur eine Antwort: Niemand soll gezwungen werden, acht, sechs oder auch nur einen Monat etwas tun zu müssen, das er (sie ist in dem Fall ja ausgenommen) nicht tun will und dafür schlecht bezahlt werden. Schon gar nicht sollen Menschen „staatsbürgerliche Bildung“ genießen, die primär darin besteht, vor Obrigkeiten zu buckeln. Solche Staatsbürger will ich nicht. Solche Staatsbürger sollte eigentlich niemand wollen.
Bis dahin ist ja alles noch gut. Da kann ich ja guten Gewissens mein Kreuzerl machen. Nicht mehr gut ist es, wenn der Themenkomplex „Wehrpflicht oder Berufsheer“ gar nicht im Zusammenhang mit Landesverteidigung diskutiert wird, sondern im Zusammenhang mit dem Sozialwesen in diesem Land. Zur umfassenden Landesverteidigung sind wir im Rahmen völkerrechtlicher Verträge verpflichtet. Was das genau bedeutet, wird gar nicht diskutiert. Keine Ahnung, in welcher Form eine effiziente Landesverteidigung heutzutage stattfinden sollte. Wogegen oder gegen wen müssen wir uns verteidigen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass man da seit meiner Zeit beim Bundesheer noch immer keine Antwort gefunden hat und sie auch nicht sucht.
Und so dreht sich die Diskussion im Vorfeld der Volksbefragung auch gar nicht um dieses Thema, sondern nur darum, wie das Sozialwesen – das derzeit stark von jungen Männern getragen wird, die statt Erniedrigung beim Heer eine grundsätzlich sinnvollere Zwangsbetätigung gewählt haben – aufrecht erhalten werden kann. Da geht es darum, ob Wehrpflicht plus Zivildienst oder Berufsheer plus Soziales Jahr in etwa gleich viel kosten können. Es geht aber nicht um die Frage, wie viel Geld wir mit falsch verstandener bzw. unzeitgemäßer Landesverteidigung beim Fenster hinausschmeißen. (Und damit meine ich nicht die UN-Friedensmissionen.)
Hier wird der Schein direkter Demokratie für die Erhaltung des Status quo missbraucht, anstatt das Instrument dafür einzusetzen, Politik zu machen, die Antworten auf Fragen sucht, die seit zwanzig Jahren überfällig sind.
Ich weiß, wie ich am 20. Jänner abstimme. Mein Nein zur Wehrpflicht ist ein Nein zum Zwang. Es ist aber kein Ja zu einer Politik, die Lichtjahre am Kern des eigentlichen Problems vorbei agiert.