Bei der aktuellen twenty.twenty Blogparade geht es um die Frage „Globales Heimatgefühl durch Vernetzung?“. Meine Antwort ist: „Ja!“
Zur Begründung muss ich ein wenig ausholen. Gute Blogposts beginnen ja immer mit dem Urknall. So weit will ich dieses Mal gar nicht zurückgehen. Ich beginne mit meinem Dasein auf dieser Welt. Das hat im Mühlviertel begonnen. Diese Gegend, die damals eng am Eisernen Vorhang klebte, sollte mir also als Heimat dienen. Was für ein großes Wort für so viel Beengtheit! Heimat.
In Wikipedia steht über diesen Begriff geschrieben:
„Im allgemeinen Sprachgebrauch wird er auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen.“
Meine frühesten Sozialisationserlebnisse erspare ich Euch. Aber über Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen möchte ich gerne ein paar Worte verlieren. Im Mühlviertel wird nämlich nicht nur Most gebraut, sondern auch ein grauenvolles Weltanschauungsgemisch. Die Hauptbestandteile sind Katholizismus der freudlosesten Prägung und eine unglaublich verbohrte Häuslbauermentalität. Für den Kirchgang am Sonntag putzt man sich fein raus und beim Hochamt klopft man sich bei „durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld“ gar eifrig gegen die Brust. Das Eigenheim hat man sich schön hergerichtet. Das ganze Leben hat man sich abgerackert, um sich das aufbauen zu können. Die ganze Gesundheit hat man sich ruiniert, auf alles hat man verzichtet, nur um sich die eigene Trutzburg der Biederkeit hinstellen zu können. Das Mühlviertel ist keine reiche Gegend. Da muss man schon ordentlich arbeiten, um seinen Kindern ein schönes Haus vererben zu können.
Und dann steht man mit krummen Rücken im Garten vor dem Eigenheim und lugt vorsichtig über die akkurat gestutzte Hecke, was die Nachbarn so machen. Wenn die einen erblicken, setzt man das freundlichste Mühlviertler Lächeln auf, grüßt überschwänglich und „ratscht“ ein wenig über dieses und jenes. Meist über nicht Anwesende (also die Nachbarn auf der anderen Seite des Gartens), die sich nicht an die Regeln halten, die hier seit eh und je gelten. Weil’s immer schon so war.
Ich wollte mich jedenfalls nicht von dieser Heimat prägen lassen. Als 14-15jähriger habe ich mit ein paar Freunden auf’s Allerheftigste gegen diese Enge und Biederkeit rebelliert. Wir waren damals eine kleine Gruppe Pubertierender, die weit über das dort übliche Ausmaß aufgefallen ist. Wir haben uns nicht nur jedes Wochenende kräftig besoffen und Autos oder Mopeds in Straßengräben versenkt (das entsprach ja der dort geltenden Norm), wir haben vor allem anders ausgesehen. Wir waren optisch eindeutig als Querulanten identifizierbar. Und das war zu viel. Da ist dann das freundliche Lächeln einem feindseligen Gesichtsausdruck gewichen und es wurde nicht mehr nur hinter unserem Rücken geredet. Man hat uns offen angefeindet. All die Drohungen, all die körperliche Gewalt, mit der uns Gleichaltrige (weltanschaulich unterstützt von ihren Eltern) konfrontiert haben, wäre Stoff für einen Roman. Vielleicht sogar für einen Heimatfilm.
In diesem Film wollte ich aber nicht mitspielen. Meine Heimat war irgendwo da draußen. Ein Fenster zu diesem „Draußen“ war die Ö3 Musicbox. Die wurde damals noch um 15.00 Uhr am Nachmittag ausgestrahlt und wenn ich aus dem Schulbus gestiegen bin, musste ich meist laufen, um den Beginn der Sendung nicht zu versäumen. Meine Heimat waren meine Schallplatten (um die zu kaufen, musste ich knapp 50 Kilometer nach Linz fahren). Meine Heimat waren die Mixtapes, die Freunde für mich aufgenommen haben und es waren meine Bücher (es gab zumindest eine halbwegs sortierte Buchhandlung in dem Ort). Auf den Rest, auf diese Gegend, in der es immer kalt ist, und auf ihre bigotten Bewohner wollte ich verzichten. Ich wollte weg. Nach der Matura war es dann endlich so weit. Ich konnte gehen. Allzu weit bin ich nicht gekommen. Aber Wien war eine Befreiung für mich. Die Anfeindungen von außen fielen größtenteils weg und das, was meine eigentliche Heimat ausgemacht hat – die Mixtapes, die Schallplatten und die Bücher – , ist natürlich mitgekommen. Ich kann es kaum noch zählen, wie oft ich dann in Wien umgezogen bin. Eines war dabei aber immer Ritual: Zuerst wurde übersiedelt, aufgebaut und eingeräumt, was meine Heimat ist. Alles andere war nicht so wichtig.
Und dann kam das Internet. Seitdem ist das, was die Musicbox so wertvoll für mich gemacht hat, immer und überall. Jetzt ist es bedeutend einfacher, Geschriebenes, Musiziertes und Gestaltetes zu finden, aus dem ich meine Heimat forme. Jetzt ist es einfacher, Menschen zu finden, die in der von mir konstruierten und erdachten Heimat leben wollen, die sie mit mir erweitern und neu gestalten. (Etliche davon sind wieder emigriert. No bad feelings!)
Wenn ich jetzt auf Reisen bin, dann suche ich als erstes einen Internet-Anschluss. Das Internet ist meine Heimat. Ernsthaft. Es ist genau das (und noch einiges mehr), was früher die physischen Tonträger und Bücher waren. Ich brauche nicht mehr laufen, um den Beginn der Ö3 Musicbox mitzubekommen, ich muss nicht mehr 50 Kilometer fahren, um mir Schallplatten zu besorgen und ich habe Kontakt mit vielen Menschen, von denen ich meine Weltauffassung gerne prägen lasse.
Ich bin der Überzeugung, dass das Netz für Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – ihr Land oder ihre Stadt verlassen, viel von dem sein kann, was es für mich ist: Ein Stück Heimat. Dafür braucht es aber zwei Dinge. Das erste ist nicht zufällig eine Assonanz auf Heimat: Breitband. Seit einigen Jahren wird diskutiert, ob das Recht auf Internetzugang ein Grundrecht sein soll. Meine Antwort ist auch hier: „Ja!“ Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Das zweite ist etwas schwieriger:
Das Netz darf nicht zum Mühlviertel werden!
Wir brauchen keine Heimat, in der wir ständig überwacht werden. Im Mühlviertel erledigen die Nachbarn den Überwachungsjob, im Netz sind es große Unternehmen und letztlich der Staat, die das machen. Wir brauchen keine zusätzlichen Hürden, um an Informationen heranzukommen. Niemand braucht nach Linz oder sonst wo hin fahren, um gute Musik zu bekommen. Wir brauchen keine weltanschaulichen Filter für Inhalte. Dort wo ich herkomme, ist das der Katholizismus. Im Netz bestimmen Facebook, Google et al, welche Informationen uns erreichen sollen. Diese Liste kann man sicher noch fortsetzen. Mir wäre aber lieber, wenn sie kürzer würde und Menschen nicht in eine Heimat hineinwachsen, die sie bald so empfinden, wie ich den Ort empfunden habe, in dem ich meine Jugend verbracht habe. Es wird nämlich keine Möglichkeit mehr geben, von dort wegzugehen, ohne auf alles zu verzichten.
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Namensnennung: Werner Reiter (werquer)