Gestern ist Lou Reed gestorben. Ich habe von seinem Tod via Twitter erfahren und war nur einen Augenblick später Teil des großen Socialmediagedenktrosses. Auch ich habe seine künstlerischen Großtaten gelobt, habe versucht zu beschreiben, was seine Musik für mich bedeutet hat und ich habe auf meine Art von ihm Abschied genommen. So wie Tausende und Abertausende andere auch. Social Media haben uns gestern wieder Mal die Plattformen für eine spontane weltweite Trauerfeier geboten.
Bei Personen, die diese Welt ohne den Kultstatus eines Lou Reed verlassen, funktioniert das eigentlich nach dem gleichen Schema. Die Hinterbliebenen (was für ein seltsames Wort!) posten über ihre Hilflosigkeit mit dem Verlust umzugehen und merken dabei, dass sie damit nicht alleine sind. Es hilft, den Schmerz, die Ratlosigkeit und die Verzweiflung über den Tod des geliebten, geschätzten oder auch nur verehrten Menschen zu teilen.
Apropos „Teilen“: Das ist ja das Mantra jedes Statements über die Verfasstheit des Internet. „Sharing“ ist doch, wofür dieses Netz entwickelt und gebaut wurde. Und wie das mit dem geteilten Leid ist, ist allgemein bekannt. Eine wunderbare Deckungsgleichheit von Trauer und Netz.
Erst kürzlich habe ich das selbst erfahren. Einer, der so gar nichts von einem Lou Reed hatte, ist gegangen. Mir ist nichts Besseres eingefallen, als meine Ratlosigkeit darüber zu teilen. Ich wollte irgendetwas dazu hören, eine Reaktion erhalten. Also habe ich meine Gedanken veröffentlicht. Ich habe gesehen, dass der Beitrag gelesen wurde. Habe Reaktionen darauf bekommen. Mitleid. Beileid. (Auch so seltsame Worte.) Das hat gut getan. Irgendwie.
„Gemeinsam trugen sie den auf eine grüne siebensprossige Leiter gebundenen Leichnam ans Ufer des Ganges und tauchten ihn – der Knabe wohl fünf Meter voraus in den Fluß hineingehend – ins heilige Wasser hinein, so daß der Junge zwischen orangefarbenen, gelben und weinroten Blumengirlanden, zusammengeknüllten farbigen Leintüchern und zwischen den schwimmenden schwarzen Holzkohlestücken im Wasser stand. Sie tauchten den auf der Bambusleiter liegenden Toten mehrmals unter, bis auch der Kopf unter dem Wasserspiegel verschwand, hoben ihn wieder auf und trugen ihn, während das Flußwasser vom Toten und von der Bahre zurückrann, ans trockene Ufer.“
Wir teilen den Tod. Wir teilen die Trauer. Es hilft uns irgendwie. Der Tod gehört allen. Irgendwie. Das Sterben gehört den Sterbenden alleine. Ein kleines Stück gehört vielleicht noch den Wenigen, die am Sterbebett sitzen und die erkaltende Hand halten. Allzu oft sitzt da aber niemand. Das Sterben ist nicht geeignet geteilt zu werden. Nur wenige Sterbende lassen andere auf Social Media daran teilhaben. Einer, der das getan hat, war der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. Er hat sein Sterben auf seinem Blog „Arbeit und Struktur“ dokumentiert (siehe hier).
„Ein toter zwölfjähriger, in ein weißes Baumwolltuch eingewickelter und mit Hanfschnüren Junge wurde mit einen Boot, auf dem mehrere Männer saßen, gegenüber dem Harishchandra Ghat in die Flußmitte hinausgerudert. Als einer der Männer am Bug des Bootes den schweren Stein, auf dem der Leichnam aufgebunden war, noch einmal zurechtrückte, bewegten sich die über den Bootsrand hängenden und knapp über der Wasseroberfläche pendelnden Füße des Knaben, so daß ich im ersten Moment glaubte, der Junge werde sich noch einmal erheben und über das Wasser zum Einäscherungsplatz zurückspazieren.“
Es ist doch so: Der überwiegende Teil derer, die sich über den Tod von Lou Reed geäußert haben, wusste nichts über seine Krankheit und sein Sterben. Auch ich habe nichts von seiner Lebertransplantation und seiner Krankheit mitbekommen. Trotz Social Media.
„Ein auf ein Bambusgerüst aufgebundener, in vergoldete Kunststofftücher eingewickelter Toter wurde am ewig brennenden Feuer vorbei von vier jungen, immer wieder ‚Ram Nam Satya hai!‘ rufenden Männern über die Steinstufen hinunter ans Ufer des Ganges getragen. Ein Knabe mit einem Bündel brennender, nach Magnolien riechender Räucherstäbchen führte den Leichenzug an.“
Bei twenty.twenty soll über Zukunftsszenarien diskutiert werden. Dieses Mal geht es um den Tod. (Zukunftsszenarien für den Tod sind überhaupt sehr seltsam.) Ich versuche es trotzdem: Meiner Meinung nach hat das Netz und alles was da an Möglichkeiten des Self Publishing und des Austausches gegeben ist, sehr viel Potenzial, wie Menschen anders, individueller und vielleicht auch besser mit Trauer und Verlust umgehen können.
Gerade in einem Land, wo die Trauer in stumpfen Ritualen erstarrt ist, kann es hilfreich sein, wenn die Menschen individuellere Möglichkeiten finden, ihren Schmerz und ihre Ratlostigkeit auszudrücken als in den immer gleichen Antoine de Saint-Exupéry-Zitaten auf Partezetteln und in noch hohleren Sprüchen auf Kranzschleifen. In diesem rosenkranzbetenden Land brauchen die Menschen mehr als anderswo neue Möglichkeiten, Abschied zu nehmen und sich dabei gegenseitig ihrer Trauer zu versichern. Da glaube ich an das Potenzial des Teilens. Das Sterben wird wohl – auch wenn manche noch so vehement das Zeitalter der Postprivacy ausrufen – weiterhin den Sterbenden alleine gehören.
Dieser Text ist ein Beitrag zur twenty.twenty Blogparade zum Thema „Tod im Netz“.
Die Zitate sind aus Josef Winklers Roman “Domra. Am Ufer des Ganges“ (Erschienen bei Suhrkamp, Erste Auflage 2000)
Das Bild habe ich auf einem Friedhof in Pułtusk (nahe Warschau) aufgenommen.
Es steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Österreich Lizenz
Namensnennung: Werner Reiter (werquer)