Die Netz-Community hat einen neuen Märtyrer. Julian Assange wird per internationalem Haftbefehl gesucht. – Und das noch dazu wegen einer Sex-Geschichte, nicht wegen der Veröffentlichung von Daten. Der Täter Assage wird damit zum Opfer. Eigentlich sogar zum Opfer des Vietnam-Krieges.
Zu Beginn des Krieges in Indochina fühlte sich die amerikanische Regierung so sehr im Recht, dass Journalisten sogar die Infrastruktur der Militärs nutzen durften und Bilder und Berichte aus dem Kampfgebiet nahezu ungefiltert in die Wohnzimmer der Welt lieferten. Was sich daraus entwickelte, ist bekannt: die Stimmung kippte und der „gerechte“ Krieg der USA wurde plötzlich zum Kristallisationspunkt einer weltweiten Protestbewegung.
Die Mächtigen haben gelernt. Ein „gerechter“ Krieg kann nur über geschönte Bilder als solcher dargestellt werden. Dass Kriege nie gerecht sind und gewählte Volksvertreter vielfach nicht das Volk repräsentieren, sondern zwischen den Wahlen primär am Erhalt der eigenen Einfluss-Sphäre (also known as Macht) interessiert sind, ist eine Binsenweisheit. Julian Assange hat sich als Täter mit ins Spiel gebracht. Dass er das konnte, ist nicht nur den Selbsterhaltungs-Mechanismen der repräsentativen Demokratie zuzuschreiben, sondern auch dem Versagen dessen, was früher einmal so schön als 4. Gewalt bezeichnet wurde. Investigativer Journalismus, Recherche unabhängige Medienproduktion…. alles Begriffe, die heutzutage nicht einmal mehr zu hören sind, geschweige denn angewendet werden. Zu eng ist das Korsett in klassischen Medienbetrieben geworden, zu groß der ökonomische Druck.
So bleibt das Netz als letzte Hoffnung für eine kritische Öffentlichkeit. Wikileaks hat die Prinzipien des Netzes perfekt ausgenutzt und dabei viel bewirkt. Das beste Beispiel für mich sind nach wie vor die veröffentlichten Videos, die aus Kampfhubschraubern bei Angriffen auf Bagdad gedreht wurden. Egal, wie viel von dem Material bearbeitet wurde, es zeigt klar und eindeutig, dass hier Zivilpersonen getötet wurden. Solche Geschichten zu erzählen, sie ans Tageslicht zu bringen, wäre ureigenste Aufgabe von Medien. Es ist auch Aufgabe der Medien, Informanten zu schützen, die solche Materialien bereit stellen. Und es gibt viele Regeln und auch Gesetze, die dafür einen Rahmen bilden. Allein, die klassischen Medien nehmen ihre Aufgabe nicht mehr wahr. In diese Lücke ist Wikileaks gestoßen, hat provoziert und spürt jetzt mit welcher Aggressivität die etablierten Mächte gegen solche Provokationen vorgehen, wenn es, wie mit den letzten Wikileaks-Veröffentlichungen, an ihre Substanz geht. Unternehmen wie Amazon, Ebay/Paypal und diverse ISPs agieren teilweise auch in vorauseilendem Gehorsam, den Rest erledigen Geheimdienste und Regierungen. Hinzu kommt, dass hier nicht nur gegen Wikileaks selbst vorgegangen wird, sondern auch gegen seinen Kopf, den neuen Superstar Julian Assange. Er ist ein Opfer des Vietnam-Krieges.
In der Situation kann man eigentlich nur für Wikileaks sein. Wo Regierungen nicht transparent agieren, hat die Öffentlichkeit ein Anrecht auf transparente Informationen aus alternativen Quellen. Die Öffentlichkeit verträgt die ganze ungefilterte Wahrheit und ein Held ist, wer sie ans Tageslicht bringt. So einfach ist es aber dann doch nicht. Ich bin ein großer Befürworter von Open Data. Ich möchte wissen, was gewählte politische Vertreter mit ihrem Mandat und meinem Steuergeld machen. So far so good. Ich bin aber nicht sicher, ob das Prinzip Wikileaks da nicht einen Schritt zu weit geht. Plakatives Beispiel gefällig? In einem Dokument sind Standortdaten von Atomsprengköpfen zu finden. Mit dieser Information kann ich nichts anfangen. Gar nichts. Eine terroristische Vereinigung könnte. Die Veröffentlichung der Standorte ist aber nur ein Symptom eines grundlegenderen Problems. Und das ist die Existenz der Atomsprengköpfe. Finanziert mit den Steuergeldern des Stimmvolkes, befürwortet und gehegt von den Volksvertretern. Mag sein, dass ich da etwas old-school bin, aber ich bin der Meinung, dass es die Aufgabe von Medien ist, die Geschichten so zu erzählen, dass ich mir ein Bild über die Aktivitäten der Regierenden machen kann. Wie sehr Wikileaks auch auf den Schutz der Informanten achtet, wie sehr sie auch versuchen, Teile von Dokumenten zu schwärzen, in denen Namen von unabsichtlich Beteiligen genannt werden – aus derart sensiblen Informationen lassen sich nicht nur Schlüsse ableiten, die die Transparenz fördern. Der potenzielle Missbrauch ist nur einen Schritt entfernt.
Wikileaks ist so gesehen also auch nur ein Symptom eines grundlegenden Dilemmas: Die Medien nehmen ihre Rolle ungenügend war und wir wählen offenbar die falschen Vertreter. Wir sollten die Regierungen zwingen, zu veröffentlichen, was mit unseren Steuergeldern geschieht. Geleakte Geheimdienst-Dokumente zeigen zwar die Machenschaften im Hintergrund auf. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass es dafür verantwortungsvolle und unabhängige Journalisten – oder Blogger – braucht, die damit umzugehen wissen. Ich fürchte auch, dass der „Fall Wikileaks“ dem Thema Open Data keinen guten Dienst erweist. Die Netz-Community hat mit Assange einen Märtyrer. Die etablierten Mächte haben den Beweis, dass die Öffentlichkeit keine Transparenz verdient.