„Das müssen Sie aushalten, meine Damen“, sagte Prof. Walter Dostal süffisiant grinsend, wenn junge Ethnologiestudentinnen reihenweise in Ohnmacht fielen, während er stundenlag Videos von Beschneidungsritualen zeigte. Das war Anfang der 90er Jahre und Dostal war ein Vertreter einer aussterbenden Gattung von Ethnologen, die den Kulturrelativismus in Reinkultur predigten. Bloß nicht anecken bei anderen Kulturen. Als Forscher schon gar nicht. Man muss Beobachter sein, auch wenn’s weh tut und Blut fließt. Das muss man aushalten.
Ich erinnere mich an den alten Professor mit den dicken Brillen, wenn ich die Diskussion um das Urteil des Kölner Landgerichtes zum Thema Beschneidungen mitverfolge. Ich bin alles andere als ein Kulturrelativist und Religion ist mir in jeglicher Ausformung ziemlich suspekt. Damit ist es nur logisch, dass ich ein großer Freund des Laizismus bin.
So gesehen gefällt mir die Entscheidung der deutschen Richter. Und vielen anderen gefällt sie auch. (Als Beispiel hier der Blogpost von Niko Alm.) Ein Sieg der Vernunft. Durchexerziert an dem, was uns allen am wertvollsten, wichtigsten und schützenswertesten erscheint: am Körper kleiner Kinder. Der muss unversehrt bleiben, darf nicht von Eltern verschandelt oder gar verstümmelt werden, auch wenn sie das als Ausdruck ihrer kulturellen Identität verstehen. Punkt. Wunderbar! Ein Sieg der Rationalität über dumpfe irrationale Konzepte. Das ist mehrheitsfähig. – In Deutschland und wahrscheinlich auch im Schnitzelland.
Doch jetzt mal langsam: Hier hat eine staatliche Institution über eine Minderheit entschieden. Da ist Vorsicht geboten. Noch mehr Vorsicht ist geboten, wenn diese Minderheit an vielen Orten dieser Welt die Mehrheit stellt und das, was in Deutschland als Unrecht identifiziert wurde ganz zentraler Bestandteil der (kulturellen) Identitätsbildung ist. Die Beschneidung von jungen Knaben ist seit Jahrtausenden das Symbol der Aufnahme in eine Gemeinschaft. (Im Gegensatz zu Mädchenbeschneidungen hat sie auch kaum negative Auswirkungen.) Ja, es ist Körperverletzung, aber sie ist (relativ) harmlos. Ich habe das heute schon mal mit dem Stechen von Ohrringen verglichen. Ich habe als Vater eingewilligt, dass sich meine Töchter Ohrringe stechen lassen. Sie wollten das zwar selbst, aber sie sind noch keine 14. Also bin ich verantwortlich für einen Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit. Wenn ich das Urteil des Kölner Gerichts zu Ende denke, bin ich schuldig.
Es gibt nichts was mir mehr gegen den Strich geht als Ungerechtigkeiten im Namen der Religion. Religion ist für mich eine Ungerechtigkeit an dem was ich kritisch reflektiertes Denken nenne. Es gäbe vieles, was in dem Zusammenhang verboten werden müsste. (Pars pro toto die Kreuze in Schulklassen.) In Deutschland wurde aber etwas verboten, das eine Minderheit betrifft. Und das ist noch dazu zentrales Element von Kulturen. Religionen per se sind ja immer abstrakt. Sie werden konkret in Form von Traditionen und kulturellen Äußerungen. Selbst wenn man grundsätzlich nichts mit der Religion anzufangen weiß, muss man sie als solche mal zu Kenntnis nehmen. Bei der Debatte um Beschneidungen operiert man nicht an irgendwelchen Oberflächlichkeiten wie etwa der Verschleierung von Frauen (Verschleierung ist selbst bei Muslimen nicht mehrheitsfähig). In etlichen Kulturen gilt ein (männliches) Kind erst in eine Gesellschaft aufgenommen, wenn es beschnitten ist. In der Denkweise dieser Menschen kann man damit nicht warten, bis der Knabe 14 ist. Er würde lange Zeit in der Luft hängen. Das ist nicht religiös begründbar und schon gar nicht rational. Mir gefällt das nicht, aber ich will es nicht verbieten.
Warum? Weil es den Graben zwischen den Einheimischen (in dem Fall die deutsche Mehrheit) und den Zugewanderten (in dem Fall die muslimische und jüdische Minderheit) noch weiter aufreißt anstatt ihn zu schließen.
Ich würde über dieses Urteil jubeln, wenn es in einem Land mit jüdischer oder muslimischer Mehrheit gefällt worden wäre. Das wäre ein wünschenswertes Zeichen von Laizismus. Im konkreten Fall bin ich der Meinung Dostals: Wir müssen das aushalten. Wir werden das Thema nicht in Deutschland (und in Österreich schon gar nicht) lösen können. Wir sollten darüber diskutieren, aber nicht verbieten.