Das gespaltene Ich

Nachfolgendes habe ich in einer schlaflosen Nacht für das Magazin für Glamour und Diskurs verfasst. (Andere sagen auch The Gap, Ausgabe 110 dazu.)
Nicht erst seit Facebook gibt es im Netz einen Zwang zur Authentizität. Dieser widerspricht allerdings unserem realen Bedürfnis, mehrere Rollen zu leben. Wir werden künftig deshalb mit mehreren IDs im Web unterwegs sein, meint der Netztheoretiker Geert Lovink.
Anlässlich seines Vortrags im Rahmen der Veranstaltungsreihe twenty.twenty: Paradoxes aus der Netzwelt.

Paradox 1: Open ID hat sich nicht durchgesetzt
Alles beginnt mit einer Registrierung, meint Geert Lovink. Die Anlage von UserID und Passwort auf Webplattformen ist konstitutiv und damit subjektbildend. Es gab in der Vergangenheit schon einige Versuche, einheitliche User-Namen im Web über dezentrale Authentifizierungssysteme wie OpenID zu etablieren. Sie sind allerdings trotz des offensichtlichen Mehrwerts gescheitert. Ob sich gegenwärtig eine Facebook-Authentifizierung als de-facto-Standard etabliert oder nicht: Lovink ist der Meinung, dass eine einheitliche ID dem Bedürfnis der Anwender, auch im Web verschiedene Rollen einzunehmen, nicht entsprechen kann. Er glaubt, dass die Menschen die Trennung von offiziell und informell über unterschiedliche UserIDs erreichen werden. Oft auch auf ein- und denselben Plattformen.
Paradox 2: Trotz eines offenen Wertesystems schafft das Netz immer wieder Monopole
Geert Lovink ist tief verwurzelt in der Netzaktivisten-Szene – und gerade deswegen sehr skeptisch, dass das dort entwickelte Wertesystem Einfluss auf traditionelle Institutionen haben kann. Zu rasch erfolge der Wandel als dass hier die Ideen eines offenen Internet tatsächlich auch Einfluss auf die Gesellschaft haben könnten. Politischer Aktivismus im Netz ist für ihn dennoch sinnvoll und notwendig. Als Beispiel nennt er die Online-Aktivitäten rund um die Studentenproteste in Österreich. Das Netz spielte eine wesentliche Rolle für die Organisation der Studenten. Dass all das nicht zu einer Veränderung der realen Situation an den Unis geführt hat, erklärt Lovink damit, dass in Österreich – nach wie vor stärker als in anderen Ländern – Dinge institutionell ausverhandelt werden. Die Idee eines offenen Internet und eine intensive Arbeit am Code hat zwar nicht zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung geführt, aber doch immer wieder neue Services hervorgebracht, die extrem rasche Verbreitung gefunden haben (Twitter, Facebook,… you name them!) Paradoxerweise führt gerade der offene Ansatz immer wieder dazu, dass diese Services relativ rasch eine beherrschende Stellung am Markt erreichen können. Einfache Ideen können rasch große Wirkungen erzielen.
Paradox 3: Das Internet ist nicht so global wie es scheint
Obwohl die ganze Welt – technisch gesehen – global vernetzt ist, gibt es kaum globale Services und auch die theoretischen Diskussionen werden primär regional geführt. „Die globale Dimension ist völlig unterentwickelt“, meint Lovink und führt an, dass selbst Giganten wie Facebook in China oder Asien kaum verbreitet sind. Auch in seiner Heimat Holland hat Hyves als lokale Plattform größere Bedeutung. Hier die Sprachunterschiede als Begründung zu nehmen, ist für Lovink eine zu „einfache Ausrede“.
Hype als zyklisches Phänomen
In seinen Publikationen hat sich Lovink intensiv mit den Internet-Hypes auseinander gesetzt. Anders als in der Dotcom-Phase ist der aktuelle Social Media Hype aber keine Bubble der Finanz-Welt sondern ein Lifestyle- und Fashionphänomen. Man hat aus der ersten Welle gelernt und ist vorsichtig geworden, die neuen Unternehmen allzu früh an die Börse zu bringen. Google etwa hat sich für den Schritt sehr lange Zeit gelassen. Den Aufstieg von Social Media sieht Lovink dennoch stark bedingt durch die wirtschaftliche Situation. Die Exposition des eigenen Ichs auf Social Media Plattformen ist eine Form der Selbstvermarktung, die vor allem die wachsende Zahl der selbstständig Beschäftigten nutzt.
Zukunft Kooperation
Rund um die erste Veranstaltung von twenty.twenty wurde mehrfach der Vorwurf geäußert, dass sich Lovink nahe an der „Schirrmacherei“ bewegt. Anders als der /FAZ/-Redakteur ist er aber im Netz zu Hause und obwohl Lovinks Beschreibung des Status quo manchmal pessimistisch klingt, sieht er trotz der vielen Paradoxa auch das positive Veränderungspotenzial für die Zukunft. Die Struktur eines offenen Netzes wird auch von Medien- und Telekommunikationsunternehmen zunehmend als Experimentierumgebung anerkannt und das Netz wird in Zukunft mehr und mehr die Kooperation fördern. Egal, ob Facebook vom Markt verschwindet und die User zu anderen Services abwandern. Kollaboration wird weiterhin ein zentrales Element des Web bleiben. Darauf konnten sich auch die anderen Teilnehmer von twenty.twenty einigen.
twenty.twenty ist eine gemeinsame Veranstaltungsreihe von The Gap und A1 Telekom Austria, die sich als Diskussionsplattform für Zukunftsthemen versteht. Nachgedacht wird über die „mittelferne“ Zukunft, konkret das Jahr 2020 und vor allem darüber, wie Kommunikations-Technologien Teil unseres Lebens sein werden. Die nächste Veranstaltung findet am 30. November 2010 statt und trägt den Titel „We prodUSE- Medienproduktion und Mediennutzung in 2020“.
www.twentytwenty.at

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