Wir haben den 26. November. Es schneit und es wird immer ungemütlicher für die Menschen, die seit drei Monaten die Baustellen für die Stadtautobahn in Wien besetzen. Sie wollen trotzdem ausharren, um ein Bauprojekt zu verhindern, das seine Ursprünge im vergangenen Jahrtausend hat und das nicht mehr in dieses passt. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig könnte den Bau ohne Gesichtsverlust stoppen. Hier die Rede, die er halten müsste.
Bürgermeister Michael Ludwig über das Ende der Stadtstraße und des Lobautunnels
Ich wende mich heute an alle Menschen, die in dieser wundervollen Stadt leben. Vor allem wende ich mich an die jungen Leute, die das Vertrauen in die Stadtpolitik verloren haben. An alle, die glauben, wir – die Politikerinnen und Politiker – wären nicht lernfähig. An alle, die uns schlechtes Krisenmanagement vorwerfen. Damit meine ich ausnahmsweise nicht die Corona-Pandemie, sondern die Klimakrise.
Vielleicht sollte ich meine Ausführungen aber doch bei Corona beginnen. Da hat sich in den vergangenen Tagen etwas getan, was in der Politik nur ganz selten vorkommt: Kanzler und Gesundheitsminister haben sich entschuldigt. Sie haben eingestanden, dass sie zu spät und zu wenig konsequent gehandelt haben. Indirekt haben sie damit auch gesagt, dass sie Warnungen und Empfehlungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht ernst genug genommen haben, dass ihr politisches Handeln nicht immer evidenzbasierend war. Die Entschuldigung kam zu spät. Da war das Schlimmste bereits eingetreten. Menschen sind gestorben und unser Gesundheitssystem kann nicht mehr alle versorgen, die Hilfe brauchen. Wir haben in Wien alles getan, um hier gegenzusteuern. Das ist teilweise auch gelungen. Die Großstadt Wien steht im Vergleich besser da als andere Bundesländer. Doch ich will uns hier nicht loben. Besser geht immer.
Jetzt zur Klimakrise: Auch ich möchte ich mich heute bei Ihnen entschuldigen. – Allerdings mache ich das zu einem Zeitpunkt, an dem es noch nicht zu spät ist. Ich entschuldige mich dafür, dass unsere Stadtregierung zu lange an einem Bauprojekt festgehalten hat, das zur Verschärfung dieser Krise beiträgt. Die vierspurige Stadtstraße und der Lobautunnel würden zu höherem Verkehrsaufkommen führen und unsere Umwelt massiv belasten. Forscherinnen und Forscher sagen uns das schon lange. Heute muss ich eingestehen, dass wir ebenso lange versucht haben, das zu ignorieren. Wir haben die Warnungen in den Wind geschlagen. Wir haben viel Steuergeld in die Hand genommen, um Informationen zu verbreiten, die eine andere Geschichte erzählen. Auch dafür entschuldige ich mich.
Schon heute sterben Menschen an den Folgen der Klimakrise. Zwar nicht hier in Wien, aber unsere Emissionen sind Teil eines globalen Problems, das anderswo schon tödlich ist. Es wird noch schlimmer werden und auch uns mit voller Wucht erreichen. Das Aussterben vieler Tierarten ist ein deutliches Warnzeichen.
Ich will mir nicht sagen lassen, dass die Stadt Wien am Tod von Menschen mit schuld ist. Nicht heute und auch nicht, wenn ich längst schon nicht mehr Bürgermeister bin. Viel lieber wäre mir, wenn sich die Wienerinnen und Wiener dann an mich erinnern, als einen der in seiner Amtszeit dazugelernt hat, einen der evidenzbasierende Politik gemacht hat. Als einen, der auch Verantwortung für die nächsten Generationen übernommen hat.
Daher gebe ich hiermit bekannt, dass der Bau der Wiener Stadtstraße mit sofortiger Wirkung gestoppt ist.
Ich möchte, dass die mutigen Menschen, die seit drei Monaten die Protestcamps betreiben, beruhigt nach Hause gehen und die Adventzeit mit ihren Liebsten verbringen können. Anfang nächsten Jahres starten wir einen Prozess, der zum Ziel hat, die Mobilitätsbedürfnisse aller Wienerinnen und Wiener auf möglichst nachhaltige und umweltschonende Weise zu befriedigen und motorisierten Individual- und Schwerverkehr in der Stadt auf ein absolutes Mindestmaß zu reduzieren. Dafür braucht es einige übergeordnete Konzepte, aber auch viele kleine Maßnahmen und Ideen. Wir laden Wissenschaft und Bevölkerung ein, sich intensiv daran zu beteiligen.
Wien wird das schaffen und eine wundervolle Stadt bleiben.
Ihr Bürgermeister
Michael Ludwig