Weit ist es gekommen, dass ich einmal Partei für einen ÖVP-Politiker ergreife. Und noch dazu für einen, der aus meiner Sicht wenig Substanz für sein Amt mitbringt. Dennoch muß ich ihn für seinen Mut bewundern, überhaupt noch in die Politik zu gehen. Die österreichische Politik hat sich mir gestern von ihrer absurdesten Seite gezeigt. Zwar habe ich mangels Fernsehgerät nicht gesehen, was der Jungpolitiker Sebastian Kurz (@sebastiankurz) auf Armin Wolfs (@ArminWolf) Fragen geantwortet hat. Wie ich durch Verfolgen des Hashtags #kurz auf Twitter feststellen konnte, habe ich inhaltlich nichts versäumt. Habe auch nicht erwartet, dass der junge Mann mit fundierten politischen Konzepten brillieren wird. (Zu meiner Einschätzung über Kurz gibt’s weiter unten noch mehr.)
Was mich aber wirklich verblüfft hat: Die angeblich so kritischen Zeitgenossen (heißt es nicht immer, dass besonders viele Meinungsbildner auf Twitter sind?) haben so gut wie nichts zum Thema Integrationspolitik getwittert. Nur über Kurz selbst, dass er rhetorisch gut sei, dass er ein gutes Medientraining hatte, dass er keine Inhalte bringt usw….
Die Zusammenfassung lieferte Corinna Milborn (@corinnamilborn):
Das könnte man als Einzel-Statement einfach so stehen lassen. Ich halte es allerdings für problematisch, dass sich so gut wie alle Tweets mit diesen Äußerlichkeiten beschäftigt haben. Kaum jemand hat sich mit den Inhalten auseinandergesetzt, mit denen sich Kurz von Amts wegen befassen sollte: Mit der Integrationspolitik.
Die Verfechter der partizipativen Möglichkeiten des Internet sind genau in die Falle getappt, aus der sie sich befreien wollen. Sie haben das Spiel der Mediendemokratie mitgespielt; über die ganze Länge. Inhalte waren in TV-Diskussionen und Interviews immer schon Nebensache. Wir erinnern uns an brilliante Auftritte Bruno Kreiskys, an zitternde Mocks, an Taferl zeigende Haiders. Inhalt egal. Was zählt ist, da möglichst elegant durchzutauchen. Die Inszenierung. Und jetzt neu: Auch mit Social Media. Die kritischen Köpfe des Landes ganz engagiert und mitten drin in Diskussionen, die an der Sache vorbeigehen.
Das war gestern meine erste Reaktion darauf:
Und so breche ich hier und jetzt eine Lanze für Sebastian Kurz. Wenn der Kritiker-Tross (bzw. die Twitter-Community als deren vermeintliche Speerspitze) selbst keine Inhalte bringt, warum sollte Sebastian Kurz es tun? Der Mann ist goldrichtig für einen Politikerposten! Traurig nur, dass das Thema, das er zu verantworten hat, dringend eine inhaltliche Diskussion benötigt.
Sebastian Kurz hat mit Sicherheit nicht das politische Gewicht, ein komplexes Thema, das noch dazu als Querschnitts-Materie mehrere Ressorts der Bundespolitik berührt, wirklich so zu steuern wie ich mir das für die Bewohner dieses Landes wünsche. Den Umgang mit Menschen, die ihre Wurzeln nicht in Österreich haben zu gestalten erfordert viel Fingerspitzen-Gefühl (wir haben eine breite Bevölkerungsschicht, die reflexhaft ein „raus“ hinter das Wort „Ausländer“ setzt und wir haben Mitbürger deren kulturelles Selbstverständnis Unterschiede zu dem der Bevölkerungsmehrheit aufweist) und ebenso viel Sachkenntnis (von Bildungsfragen über Arbeitsmarktpolitik bis hin zu Diskussionen über Wertvorstellungen).
Das alles traue ich Sebastian Kurz nicht zu. Und wenn er bloß als Feschak eingesetzt wurde, der das zum Besten gibt, was ihm Berater einflüstern, dann will ich ihn schon gar nicht in der Position sehen. Dafür bekommt er zu viel von meinen Steuergeldern. Da stimme ich dem Gros der österreichischen Twitteristi durchaus zu.
Grundsätzlich bin ich auch der Meinung, dass man jungen Menschen mit entsprechendem Talent ihre Chancen nicht wegen ihrer Jugend verbauen soll. In den letzten Wochen ist immer wieder der Name Mark Zuckerberg gefallen. Ja, der war auch blutjung als er Facebook mitentwickelt hat. Er wusste aber nicht, was auf ihn zukommt. Die ÖVP bzw. Michael Spindelegger wussten, was die Inhalte sind, mit denen ein Integrations-Staatssekretär umgehen muss.
Quereinsteigerei und junge Politiker täten der heimischen Politik gut. Wenn nur mehr Berufspolitiker am Steuer sind, die in den jeweiligen Partei-Apparaten sozialisiert wurden, werden sie das Land bald ohne seine Bürger steuern. Ich glaube nicht, dass das mit der Politkverdrossenheit so stimmt. Ich stelle fest, dass Menschen aller Schichten sich sehr wohl für Politik interessieren. Allerdings war der Abstand zwischen Politikern und Bürgern noch nie so groß wie heute. Da sitzen sie also: unsere Politiker. Die da oben. Und wir da unten reden darüber, ob ihre Inszenierung geglückt ist.
Welcher halbwegs vernünftige Mensch soll sich antun, Politiker zu werden? Permanent beobachtet, ob man nur keinen Fehler im großen Polit-Theaterstück macht. Eingesperrt zwischen Parteilinie und den Notwendigkeiten der medialen Inszenierung? Und sollte einer doch mal Inhalte diskutieren wollen, wird dann noch von der Kritikermeute niedergebellt. Dafür gibt’s nicht nur ein wenig Bashing auf Twitter, sondern einen richtigen Shitstorm.
Gut, wenn man’s mit der Moral nicht so genau nimmt, kann man als Politker wenigstens gute Geschäfte einfädeln. (Entweder für sich oder für seine Freunde.) Doch für Korruption gibt’s keine Vorzugsstimmen.
Also haben wir jetzt Sebastian Kurz. Er tut sich das an. Dafür gebührt ihm Respekt!
Und Herr Kurz, bleiben Sie bloß bei ihren schwammigen Aussagen! Mit denen sind sie gestern auch bei Ihren Kritikern ganz gut gefahren. Keiner hat sie wirklich substanziell kritisiert. Stellen Sie sich vor, sie hätten etwas gesagt, was denen gegen den Strich geht…
Hier noch eine interessante Zusammenfassung der gestrigen „Diskussion“ auf Twitter. Autor ist Markus Leiter aka @leiterm.